INHALTSVERZEICHNIS

Wie Alles begann                              7

Karl der Regenwurm                         14

Bumml der faule Hund                      23

Eine furchteinflößende Ratte             29

Rettung in letzter Sekunde                38

Seltsame Mitreisende                        49

Das verflixte Mühlrad                         55

Ein See voller Überraschungen           66

Gefangen                                          75

Der Traum                                         84

Panik am Wasserfall                          89

Der Wächter des Wassers                  95

 


Dropsi's Reise und das unglückliche Mädchen

Wie Alles begann

 

„Nein, ich weine nicht mehr“, sagte das kleine Mädchen leise zu sich, als es an jenem wolkenverhangenen Regentag am offenen Grab seiner Mutter stand und dabei unglücklich in den trostlosen Himmel blickte.

Es war ein tapferes Mädchen, hatte viel gehofft und die Ärzte wiederholt angefleht, seine Mutter doch wieder gesund zu machen. Das Schicksal entschied leider anders.

Nun stand die Kleine da, mit völlig verheulten Augen und wollte ihrer Mutter hier zum letzten Mal zeigen wie groß und stark sie doch war. Keine Träne sollte man heute sehen, und so presste sie voll Kummer die Lippen immer fester zusammen, um dem unmenschlichen Druck, dennoch zu weinen, standhalten zu können.

Doch hoppla, was erschien da ganz zierlich und sacht im rechten Augenwinkel? Tatsächlich, es war eine kleine, klitzekleine Träne, die sich behutsam ihren Weg suchte. Sie wuchs und wuchs und das Kind bemerkte durch seine tiefe Trauer zuerst gar nicht, was sich gerade anbahnte. Ein Wimpernschlag noch, und eine glückliche Träne erblickte das Licht der Welt. Glücklich? Ja, unter anderen Umständen hätte sie gestrahlt oder geglänzt, aber als sie sich umschaute, sah sie überall nur traurige Gesichter. Sie spürte sofort, dass etwas Herzzerreißendes geschehen sein musste, und so lernte sie leider schon frühzeitig, dass es auf der Welt nicht nur Fröhlichkeit gab.

Heimlich, um nicht bemerkt und von flinker Kinderhand fortgewischt zu werden, zog sie sich vorsichtig in die Länge, glitt langsam am rechten Nasenflügel entlang nach unten, sammelte sich an seinem Ende erneut zu einer Perle und überlegte dort wie es denn nun weitergehen sollte.

In diesem Moment lehnte sich das Kind, Halt suchend, gegen seinen Vater und neigte dabei den Kopf ein wenig zur Seite.

Da nahm die Träne ihren ganzen Mut zusammen und kullerte los. Mit etwas Glück verfehlte sie den Mundwinkel und hatte jetzt freien Lauf bis zum Kinn des Mädchens, an dem sie sich zitternd festklammerte.

Hier angekommen, bemerkte das Mädchen die Träne und wollte sie mit einem Papiertaschentuch, das es etwas ungeschickt aus seinem Regencape kramte, wegwischen. Doch dazu war es bereits zu spät. Durch die Bewegungen gestört, verlor die Träne den Halt und stürzte unweigerlich in die Tiefe. Auch der verzweifelte Versuch, sie im Sturz aufzufangen, ging schief.

Das Mädchen hätte sie gerne als Andenken an seine Mutter mit dem Taschentuch eingefangen und mit nach Hause genommen, die Träne war aber leider schneller.

Beim Fallen wirbelte sie mehrfach in der Luft herum und landete, davon ganz schwindelig geworden, bäuchlings unsanft in einer kleinen Pfütze.

„Autsch!“, hörte sie nur noch jemanden ausrufen, bevor sie vor Schreck in Ohnmacht fiel. - -

Nach einer Weile, als etwas an ihrer linken Hand herumzippelte, wachte sie, noch leicht benommen, wieder auf. Ängstlich zog sie dabei ihre Hand zurück.

„Was fällt dir ein, mir auf den Kopf zu fallen?“, hörte sie die Stimme von vorher fragen, die sie auch sofort wiedererkannte. Dabei öffnete sie blinzelnd erst das eine, dann das andere Auge.

Vor ihr saß ein großer dicker Wassertropfen mit einem Verband auf dem Kopf, der einem Turban zum Verwechseln ähnlich sah.

„Los, sag schon, wo kommst du her, und wieso fällst du in unser Zuhause? Das, was für die Menschen wie eine Pfütze aussieht, sind Wir, und Wir sind unser Zuhause. Alle Tropfen, die du hier siehst, gehören dazu.“

Mit einer ausladenden Handbewegung zeigte er dabei auf alle um sie herumstehenden Wassertropfen.

„Wir mussten uns hier zu einer Pfütze versammeln, weil uns Karl der Regenwurm schlafend den Weg versperrt. Erst, wenn er sich verzieht, können wir weiterfließen. Deshalb haben wir genügend Zeit, uns deine Geschichte anzuhören.“

Die Träne traute ihren Augen und Ohren nicht, aber um sie herum standen tatsächlich die verschiedensten Wassertropfen und beäugten sie mit fragenden Blicken.

„Nun erzähl schon“, sprach der Tropfen neugierig weiter, „wir treffen nicht jeden Tag auf eine Träne. Dass du eine bist, haben wir gleich an deinem salzigen Geschmack erkannt. Man nennt mich übrigens Tropfhahn der 3655ste. Ich stamme vom tropfenden Wasserhahn dort drüben ab und bin der 3655ste Wassertropfen, der sich durch das nicht ganz dichte Ventil gezwängt hat. Daher mein Name.“

„Was bedeutet 3655?“, fragte die Träne ein wenig unsicher.

Da fingen alle um sie herum an zu lachen, aber Tropfhahn tadelte sie sofort etwas ärgerlich mit den Worten, sie sollten sich was schämen und still sein.

„Unsere junge Freundin kennt eben die Zahlen des Einmaleins noch nicht. Also, liebe Träne, vergiss 3655 und sag einfach Tropfhahn Viele zu mir, denn jeder weiß ab jetzt, dass ich damit gemeint bin. Um meinen Kopf mach dir keine unnötigen Gedanken“, sprach er freundlich lächelnd weiter als er bemerkte, dass die Träne skeptisch seinen Kopfverband betrachtete. „Wir Tropfen haben alle eine weiche Birne. Die kleine Delle wird sich schon bald wieder ausbeulen.“

„Also, also“, begann die Träne stockend. „Ich bin eine betrübte Träne, denn ein unglückliches, um seine Mutter trauerndes Mädchen, hat mich geweint. Es wollte mich fangen, aber bevor es mich erwischen konnte, bin ich abgestürzt und bei euch gelandet. Mehr weiß ich nicht zu erzählen. Darf ich bei euch bleiben?“, schob sie schnell nach. „Ich habe sonst niemanden.“

Ein Raunen ging durch die Reihen, und plötzlich hörte sie hinter sich eine freundliche, weibliche Stimme.

„Natürlich bleibst Du bei uns oder hast Du etwa gedacht, wir lassen Dich in deinem Zustand gehen?“

Die Träne drehte sich zaghaft um und blickte in ein Gesicht mit zwei glücklich strahlenden Augen, das weiter unten eine weiße Schürze mit kleinen blauen Blümchen trug.

Bevor sie sich's versah, nahmen sie die Augen mit der Schürze liebevoll in die Arme und drückten sie fest an sich.

„Man nennt mich Blümchenblau“, sprach die Tropfenfrau warmherzig weiter, „und bin mit Tropfhahn Viele befreundet. Vor einiger Zeit fiel ich aus dem Wolkenhimmel und habe hier ihn und all die anderen Tropfen zufällig getroffen. Würde Karl uns nicht den Weg versperren, wären wir schon längst davon geflossen und hätten uns nie kennengelernt.“

„Möchtest du wirklich bei uns bleiben?“, fragte jetzt Tropfhahn Viele mit einem Augenzwinkern. Wie es schien, war er der Obertropf, der hier das Sagen hatte.

„Wenn ich darf, ich bin aber doch eine Träne und kein Wasser- oder Regentropfen“, antwortete sie etwas verlegen.

„Du hast zwar die Haut einer Träne, aber innen drin bist du ein Tropfen wie wir. Die Form stimmt, und das allein zählt.

Dass du ein wenig salzig bist, macht uns doch nichts aus, oder?“, stellte er laut fest, und schaute dabei vielsagend in die Runde. „Ab sofort gehörst du zu uns und jeder wird in Zukunft darauf achten, dass Dir nichts geschieht.

Und jetzt“, dabei schaute er ganz ernst erneut um sich, „müssen wir nur noch einen passenden Namen für dich finden, denn Träne geht bestenfalls als Nachname.“

Damit ihn bei der folgenden schwierigen Aufgabe, dem Nachdenken, niemand stören konnte, steckte er sich sofort die Finger in die Ohren und klappte die Augen zu. Aber so sehr er auch hin und her, vor und zurück und gar um die Ecke überlegte, ihm wollte kein passender Name einfallen. Ratlos schüttelte er den Kopf.

„Dropsi, wie wäre es mit Dropsi?“, meldete sich unerwartet aus den hinteren Reihen eine kräftige Stimme.

„Dropsi Dropsi Dropsi!“, ertönten gleich darauf hunderte Tropfenstimmen. Tropfhahn Viele bekam das zuerst gar nicht mit, und als ihm Blümchenblau schließlich die Finger aus den Ohren zog, hielt er sie sich gleich auf’s Neue mit den Händen zu, denn der Dropsi-Chor war megalaut.

Als die erste Freude über den gefundenen Namen etwas abgeklungen war, rief er den Namensfinder zu sich.

Dass es Murx war, erstaunte ihn ein wenig. Er hätte ihm alles andere zugetraut, nur nicht, einen so hübschen Kindernamen zu erfinden.

„Du musst wissen, mein Kind, nein, natürlich Dropsi, das ist Murx, der Mutigste von uns allen“, gab Tropfhahn Viele spaßig zum Besten. „Er hat heute Mittag sogar, leider erfolglos, den mürrischen Karl am Bauch gekrault, um ihn zu wecken. Dass er für dich einen so reizenden Namen findet, hätte ich von ihm wirklich nicht erwartet.“

Er machte einen Schritt auf Murx zu und stupste anerkennend mit seinem dicken Bauch gegen den von Murx. „Tropfen zeigen so ihre Anerkennung anderen gegenüber“, erklärte er, den Kopf  Dropsi zugewandt.

In der Zwischenzeit hatte es zu dämmern begonnen; - es war Abend geworden.

Die Aufregung hatte alle müde gemacht, und so suchte sich fast jeder geschwind ein bequemes Plätzchen zum Schlafen. Blümchenblau und Dropsi schafften es gerade noch rechtzeitig unter ein in die Pfütze hineinragendes Veilchenblatt; da war Dropsi auch schon in Blümchenblau's Armen glücklich eingeschlafen.

„Murx, komm mit, wir haben noch etwas zu erledigen“, flüsterte Tropfhahn Viele leise, während er den überrascht drein schauenden Murx am Arm schnappte. Eiligst zog er ihn zu einer Gruppe kräftiger Tropfen hinüber, die in der Nähe von Karl auf die Beiden warteten. Mit ihm zusammen stellte Tropfhahn Viele einen neben den anderen als Nachtwachen entlang von Karl auf. Sie würden Alarm schlagen, wenn er aufwachte. Murx war mächtig stolz darauf, dass er dabei helfen durfte, denn in der Regel erledigte Tropfhahn solche wichtigen Dinge immer alleine.

Zügig kehrte Ruhe ein, und die Sichel des gelben Mondes leuchtete mit ein paar vorwitzig glitzernden Sternen an der langsam aufreißenden Wolkendecke vorbei auf die jetzt still da liegende Pfütze.


Karl der Regenwurm

Die ersten Vögel hatten schon lange gezwitschert, als die Morgensonne, noch etwas verträumt, hinter dem deutlich in die Jahre gekommenen Kirchturm hervorblinzelte. Im Morgentau, der überall an den umstehenden Pflanzen mit seinen klaren Perlen glitzerte, brachen sich ihre Strahlen, und so geschah es, dass auch einer davon Karl, den Regenwurm, an seinem linken Ohr streifte.

Das Pech für Karl war nur, dass der Strahl, von einer Morgentauperle wie durch ein Brennglas gebündelt, auf sein Ohr traf und ihm einen schmerzhaften Sonnenbrand verpasste. Derart unsanft geweckt, polterte Karl sofort los.

„Wer wagt es, mir zu nachtschlafender Zeit ein heißes Ohr zu machen?“

„Wir nicht“, erklang es um ihn herum einstimmig ein wenig müde aus den Mündern der Tropfen, die ihn bewachten.

„Es ist die Sonne, die meint, dass es für dich an der Zeit wäre, endlich aufzustehen und uns den Weg frei zu geben“, rief ihm Tropfhahn Viele zu.

Er war seit dem ersten Vogelgezwitscher wach und hatte still in sich hineingrinsend alles mitbekommen.

„Wieso? Es regnet doch sicher gleich wieder!“, murrte Karl trotzig.

„Mach die Augen auf, du Träumer, denn wenn du hier noch länger so faul im Weg liegen bleibst, trocknet dich die Sonne aus oder eines der früher aufgestandenen Tiere verspeist dich als Frühstück“, entgegnete ihm Tropfhahn Viele spöttisch.

„Sonne, - Frühstück? - Mach keine dummen Scherze mit mir, es ist doch noch halb Nacht. Schau dort, der Mond funkelt ja noch hinter dem Kirchturm hervor“, grummelte Karl weiter.

„Mensch Karl, sei nicht so eitel und nimm endlich deine Sonnenbrille ab, dann siehst du, dass der Tag schon lange begonnen hat“, erwiderte ihm der dicke Wassertropfen.

„Hm, tatsächlich, Tropfhahn, du hast ja recht, der Mond hat wirklich der Sonne Platz gemacht“, kam Karl's etwas muffige Antwort zurück, nachdem er vorsichtig über den Rand seiner Sonnenbrille gelinst und sie dann abgesetzt hatte.

Plötzlich zuckte er aber zusammen, denn ein Schatten streifte sein hinteres Wurmende. Sollte Tropfhahn mit dem Frühstück etwa Recht behalten, durchfuhr es ihn?

Als dieser die ängstlichen Blicke von Karl sah, rief er ihm lachend zu: „Das ist nur der Friedhofsgärtner, der hier aufmerksam für Ordnung sorgt.“

Und tatsächlich, kurz darauf senkte sich ein großer Stiefel vorsichtig neben Karl und der Pfütze auf den Boden.

Den Finger, der dann vorsichtig über Karl strich, spürte dieser, vor Schreck erstarrt, kaum. Lediglich die sanfte Stimme, „na mein Kleiner, jetzt wird es aber Zeit, dass du dich im Boden versteckst und die Tropfen fließen lässt, bevor euch die Sonne etwas anhaben kann“, nahm er wahr. Die Berührung dauerte nur Sekunden, aber sie weckte in Karl alle noch schlummernden Lebensgeister, und seine Ringmuskeln begannen aufgeregt zu zucken.

„Glaubst du mir endlich, dass es Zeit ist, weiter zu ziehen?“, fragte ihn Tropfhahn genüsslich.

„Ja ja, ich beeil’ mich doch schon. Ich muss nur noch schnell meine Schaufeln und Bohrwerkzeuge auspacken, dann kann's losgehen.“

All das hatten die in der Zwischenzeit abmarschierten Wachtropfen und fast alle anderen Wassertropfen nicht mitbekommen, denn sie saßen bereits etwas abseits, gemeinsam um einen Frühstückstisch herum, den Blümchenblau liebevoll auf mehreren Rosenblättern reichlich mit Mineralien gedeckt hatte. Dort unterhielt sich die kleine Gruppe recht unbeschwert. Mineralien sind ganz kleine Teilchen, die geschickte Wassertropfen aus dem Boden waschen, um sie als Nahrung zu verwenden.

Und genau in diese frühmorgendliche Runde platzte der Alarmruf vom Obertropf.

„Alarm, er bewegt sich“, und das bedeutete für alle, sobald der Weg frei war, mussten sie, so wie die Mutter Natur es von ihnen verlangte, weiterfließen.

Sofort war es vorbei mit der Gemütlichkeit, denn dadurch, dass sich Karl schon etwas bewegt hatte, war ein kleiner Spalt entstanden, durch den die ersten Tropfen bereits stürmisch schlüpften.

Karl begann schleunigst kräftig zu graben, und kaum war eine kurze enge Röhre entstanden, da zwängte er sein Vorderteil hinein, zog das Hinterteil nach, und gab so endlich den Weg frei.

Kein Tropfen hatte so schnell damit gerechnet.

Völlig überrascht purzelten sie herum, flossen übereinander und kullerten durcheinander, bis ein kleines Rinnsal aus ihnen entstand. Die kleine Furche, die Tage zuvor schon andere Wassertropfen ausgespült hatten, füllte sich mit ihnen und brachte sie auf den Weg zu ungeahnten Abenteuern.

Dropsi war spät aufgestanden und hatte eine von Blümchenblau extra für sie geschneiderte Latzhose gerade erst angezogen, als der Alarmruf erklang. An Frühstücken war gar nicht mehr zu denken, und so verschwanden vom Rosenblatt gerade noch rechtzeitig, flugs, zwei Mineralsalzstückchen links und rechts in den Hosentaschen, während Blümchenblau schon nervös nach Dropsi's Hand griff. Eiligst liefen sie los, sprangen zwischen die dahinfließenden Tropfen und ließen sich mit ihnen davontreiben.

 

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